Spreekanal
Wo Berlin am schönsten war...

Der Spreekanal ist ein zwei Kilometer langer Wasserlauf, der parallel zur Spree verläuft. Der schmale Nebenarm der Spree ist so alt wie die Stadt und von überragender Bedeutung für die Berliner Geschichte. Hervorgegangen aus einer glazialen Rinne, wurde er im Hohen Mittelalter aufgeweitet und zum Stadtgraben. Am Historischen Hafen trennen sich die Wege der beiden Wasserläufe, am Bodemuseum vereinen sie sich wieder. Der Spreekanal umfließt die Spreeinsel auf der Süd- und Westseite, die Spree auf der Ost- und Nordseite. Er war jahrhundertelang der Festungsgraben der im 12. Jahrhundert auf der Spreeinsel entstandenen Stadt Cölln, einer Keimzelle Berlins.

Außer dem Schutz der Stadt Cölln hatte der Kanal vor der Inbetriebnahme der ersten Mühlendammschleuse 1894 noch eine weitere Funktion: die Umfahrung des die Spree sperrenden Mühlendamms für die Spreeschifffahrt. Der Kanal fungierte im doppelten Sinne als eine Art Bypass der Spree. Zum einen als Hochwasserüberlauf, zum anderen, vor dem Bau der ersten Berliner Schleuse im Spreekanal 1578, als Flutrinne oder Freiarche. Dafür wurde das Stauwehr im Kanal vorrübergehend entfernt und die Schiffe rutschten auf einem Wasserschwall durch den mit Brettern ausgekleideten Unterlauf des Kanals.

Die Spree selbst hat bereits vor langer Zeit ebenfalls den Charakter eines Flußlaufs eingebüßt und gegen den eines Kanals getauscht:

  • sie fließt lediglich unmerklich – mitunter sogar rückwärts
  • sie tritt schon lange nicht über die Ufer und
  • sie trägt fast nur noch Ausflugsboote.

Dies gilt auch für den Spreekanal zwischen Insel- und Bodebrücke, nur dass er keinerlei Schiffsverkehr mehr aufweist, seitdem die Sportbootschleuse aus den 1930er Jahren in der DDR-Zeit baulich versperrt worden ist.

Der Kanal wird, für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich, nur 1x Mal vom lauten großstädtischen Autoverkehr überrollt, im weiteren Verlauf ist es nicht nur ruhig an seinen Ufern, sondern sogar beschaulich. Mitunter wird der Spreekanal dabei vom Schönsten und Prächtigsten gesäumt, was Berlin und Deutschland zu bieten haben: Museumsinsel, Humboldtforum, Zeughaus, Schloßbrücke, Schinkelplatz, Bauakademie in spe und Auswärtigem Amt. Außerdem steht Berlins populärstes Standbild über dem Spreekanal: Das 1896 auf der Gertraudenbrücke aufgestellte Denkmal der Heiligen Gertrud. Frau Bundeskanzlerin wohnt auch am Spreekanal. Letzteres könnte sich bald ändern, die anderen Anrainer eher nicht. Der Spreekanal hat also das Potential zur allerersten Adresse. Im nördlichen Teil, wo sie die Sehenswürdigkeiten ballen, ist er das auch noch, im seit jeher bürgerlich geprägtem südlichem Teil allerdings nicht mehr. Dort sind von den 115 Häusern der Vorkriegszeit nur 13 stehengeblieben, zuzüglich zweier in den 1960er Jahren zugezogenen Altbaufassaden. Die an die Stelle der 90 vor, im und nach dem Krieg abgeräumten Häuser getretenen Neubauten sind bedauerlicherweise zu groß und grobschlächtig, um den Spreekanal als Ganzes hervorzuheben.

Wir folgen dem Kanal drei Mal in Fließrichtung durch seine Geschichte und Topographie: Zuerst im Mittelalter, dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts als der Kanal und die gesamte Stadt den Höhepunkt ihrer stadträumlichen Entwicklung erreicht hatten – und zuletzt betrachten wir den aktuellen status quo der kurzen Wasserstraße.

Wasserwege haben in ihrer Längsrichtung etwas sehr Vermittelndes, in Querrichtung scheiden sie hingegen die Welt in zwei Teile – nur Brücken schaffen Orte des Übergangs. Die drei chronologischen Passagen orientieren sich deshalb an den elf querenden Brücken von der Insel- zur Bodebrücke.  

 

Spreekanal im Mittelalter

Die älteste Berliner Karte, der Memhardtplan, entstand einige Zeit nach dem Ende des Mittelalters. Sie gibt aber noch Zeugnis von mittelalterlichen Zuständen des Spreekanals: Auf der Seite zur Stadt verlief die Stadtmauer des 14. Jahrhunderts, auf der Seite zum Umland stand fast noch kein Haus.

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Am Oberlauf des Kanals, also südlich der Spreeinsel, war der Kanal jahrhundertelang zweigeteilt. In seiner Mitte erstreckte sich ein schmales Inselchen, das im 17. Jahrhundert die Cöllner Salzspeicher aufnahm. Vermutlich entstand das Inselchen durch die Anlage eines festungstechnisch begründeten äußeren Wassergrabens. Die älteste Brücke in diesem Bereich, die einzige Brücke, die von Berlin aus in Richtung Süden führte, war die Roßstraßenbrücke, die auch heute noch die Hauptbrücke in diesem Bereich ist. Die parallel zum Kanal verlaufende Stadtmauer besaß zur Verstärkung ca. alle 30 Meter ein Weichhaus.

Die nächste Brücke war die Vorläuferin der Gertraudenbrücke, die als Brücke im Zuge des Haupthandelsweges besser geschützt war: durch einen Zwinger inmitten des Spreekanals. Vom Zwinger aus zog sich ein weiteres schmales Inselchen nach Norden. Jenseits des Tores, im Bereich des heutigen Spittelmarktes lag das Gertraudenhospital oder kurz, der Spittel.

Kurz vor der doppelten Schleuseninsel (Schleuse seit 1578), dem Werder (Keimzelle der Bezeichnung Friedrichswerder), stand das Cöllner Ballhause. Auf einer der Schleuseninsel lag der Cöllner Holzgarten, ein Handelsplatz für aus dem Spreewald geflößtes Holz. Der Unterlauf des Kanals wird im Memhardtplan als „Neuer Ausfluß der Spree“ bezeichnet. Die Karte zeigt das Treideln eines Schiffes samt Beiboot mit zwei Pferden gegen die Strömungsrichtung von Fluß und Kanal.

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Spreekanal um 1910

Der Straubeplan von 1910 hält eine gänzlich veränderte Situation im Kartenbild fest: Der Kanal wurde nun auf beiden Seiten von geschlossenen Reihen drei bis fünfgeschossiger Wohn- und Geschäftshäuser gesäumt. Deren Adressen lauteten Friedrichsgracht bzw. An der Schleuse auf der Innenseite, Neukölln am Wasser, Ober- und Unterwasserstraße sowie Am Kupfergraben auf der Außenseite.

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Alle Brücken über den Spreekanal, die bis in die 1890er Jahre als hölzerne Klappbrücke ausgeführt waren, wurden innerhalb weniger Jahre als gewölbte Steinbrücke neu errichtet. Alle, bis auf die Jungfernbrücke, die meistfotografierte der Berliner Brücken.

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Die soeben erneuerte Inselbrücke im Bereich des Historischen Hafens vermittelte nun ebenso den Verkehr von der Fischerinsel nach Süden, wie die Grünstraßenbrücke.

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Zur Gertraudenbrücke auf der Westseite der Altstadt sind die Jungfernbrücke, die Schleusenbrücke, die Schloßbrücke, die Eiserne Brücke und die Bodemuseumsbrücke hinzugetreten. Die Eisenbahnbrücke im Zuge der Stadtbahntrasse zählt zwar vor dem Krieg und seit der Wiedervereinigung 1.400 Zugbewegungen am Tag, trägt aber keinen Namen und hat es so schwer, in die Geschichtsbücher zu gelangen.

 

Spreekanal 2021

Die Zahl der querenden Brücke ist unverändert – ansonsten ist im Umfeld des Spreekanals im 20. Jahrhundert kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Dies gilt insbesondere für die Stadtseite des Kanals. Die gesamte südliche Spreeinsel wurde zum Beispiel abgeräumt und durch sechs monströse Hochhausscheiben ersetzt.

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Die Spittelmarktbrücke, die die Freunde des Autoverkehrs 1979 direkt neben die wesentlich schönere Gertraudenbrücke von 1896 gebaut haben, sollte man nicht als eigenständige Brücke zählen. Sie wird zudem bald abgebrochen – hoffentlich ersatzlos.

Die gesamte Friedrichsgracht weist nur noch zwei Bauten aus der Vorkriegszeit (die zwischen Gertrauden- und Scharrenstraße) auf. Beinahe wäre es noch ein Haus mehr gewesen, aber die Nr. 15 zog es Ende der 1960er Jahre vor, auf die andere Seite des Kanals umzuziehen.

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Kurz vor der Schleusenbrücke mit ihren nachgeschaffenen Schmuckreliefs zur Brückengeschichte wäre beinahe eine weitere Brücke über den Kanal errichtet worden – wenn die Nationalsozialisten Zeit genug gehabt hätten, die Pantherbrücke für den Durchbruch der Jägerstraße zum Schloßplatz zu bauen. Die Brückenauflieger sind vor Ort noch zu entdecken.

Nördlich der Schleußenbrücke harrt immer noch die Bauakademie ihres baldigen Wiederaufbaus. Der Sockel des Nationaldenkmals ist zugunsten des infantilen Wippe-Denkmals für die Friedliche Revolution gepfählt worden, als wäre der Bauherr Deutscher Bundestag Vlad der Pfähler, das historische Vorbild für Graf Dracula.

Die Schloßbrücke ist die prächtigste Berliner Brücke – bis 1987 stand sie allerdings ohne ihre acht atemberaubend schönen Figurengruppen dar, die bis dato in Westberlin eingelagert worden waren. Vor 1912 ist auch ihr Mittelteil klappbar gewesen, aber daran kann sich in Berlin niemand mehr erinnern. Die folgende Eiserne Brücke ist ebenfalls aus Stein. Sie heißt aber nach der Vorvorgängerbrücke an diesem Ort – der ersten Eisernen Brücke Preußens, die ihren Altersruhesitz im Schloßpark Charlottenburg gefunden hat.

„Kupfergraben“, was Neuberliner hin und wieder als Synonym für den gesamten Spreegraben verwenden, bezeichnet nur den Abschnitt zwischen dem Bodemuseum und dem Zeughaus, dem Ziel- und Quellort für die aus Kupfer hinter dem Zeughaus gegossenen Kanonenrohre.

Die behelfsmäßige Fußgängerbrücke zum Pergamonmuseum zählt eigentlich nicht richtig. Damit ist die Spitze der Museumsinsel und das gesteckte Ziel erreicht: dem Spreekanal und seinem einem steten Wandel unterliegenden Umfeld nachzuspüren.

Dr. Benedikt Goebel
14. Juli 2021